Hinsichtlich der Möglichkeiten zur Vermeidung von Unfällen unterscheiden sich Kreuzungen und Längs-verkehrsszenarien in einem entscheidenden Aspekt: Während in Längsverkehrsszenarien Kollisionen / Unfälle grundsätzlich nur räumlich verhindert werden können, können in Kreuzungsszenarien Kollisionen zusätzlich auch zeitlich vermieden werden. Unter einer räumlichen Kollisionsvermeidung ist zu verstehen, dass entweder das Egofahrzeug vor Erreichen des Hindernisses zum Stillstand kommt, die Relativgeschwindigkeit zwischen den beiden Objekten bis zu diesem Zeitpunkt komplett abgebaut worden ist oder die Fahrzeuge durch ein Ausweichen aneinander vorbeigeführt worden sind.
Bei einer zeitlichen Unfallvermeidung hingegen reicht es aus, wenn das Egofahrzeug den kritischen Kollisionsbereich, erst dann erreicht, wenn das Hindernis diesen Bereich bereits passiert oder aber schon wieder verlassen hat. Das Egofahrzeug muss dazu nicht zwingend vorher zum Stillstand kommen. Grundsätzlich ist dies unabhängig vom Szenario mittels Bremsen, Ausweichen aber auch durch eine Beschleunigung des Egofahrzeugs realisierbar. Aus Sicherheitsaspekten wird jedoch letzteres im Rahmen des Projektes nicht weiter betrachtet.
Je nach Szenario haben diese Zusammenhänge aber einen zum Teil erheblichen Einfluss auf den letztmöglichen Zeitpunkt zu dem eine Kollision noch zu vermeiden ist.
In obiger Abbildung sind exemplarisch zwei unterschiedliche Kollisionskonstellationen dargestellt. Es wird davon ausgegangen, dass sich beide Fahrzeuge mit einer für innerstädtische Szenarien üblichen Geschwindigkeit der Kreuzung nähern. In diesem Fall reicht in Variante A bereits ein geringer Versatz des Egofahrzeugs nach links aus, um die andernfalls stattfindende Kollision zu vermeiden.So könnte dieses Manöver noch sehr kurz vor der potentiellen Kollision ausgelöst werden. Ein Notbremsmanöver mit dem Ziel, den Zeitpunkt des Erreichens des Trajektorienschnittpunktes soweit zu verzögern, dass das Hindernis den Bereich passiert hat, bzw. das Fahrzeug rechtzeitig ganz zum Stillstand zu bringen, erfordert je nach Fahrzeuggeschwindigkeit einen zeitlich deutlich früher gelegenen Eingriff.
Ganz anders stellt sich die Situation in Variante B dar: In diesem Fall würde bereits, ein moderates Bremsmanöver ausreichen, um das Hindernis die Kreuzung passieren zu lassen, ohne dass es zu einer Kollision kommt. Ein Ausweichen in dieser Situation müsste deutlich früher ausgelöst werden und wird in den meisten Fällen schon daran scheitern, dass an Kreuzungen häufig nicht ausreichend Freiraum gegeben ist. Gegebenenfalls vorhandene weitere Fahrzeuge oder sonstige Objekte sind dabei noch nicht einmal berücksichtigt.
Bereits dieses einfache Beispiel macht deutlich, dass es nicht die optimale Strategie zur Kollisions-vermeidung an Kreuzungen gibt, sondern dass diese immer sehr von der entsprechenden Situation abhängig ist. Dabei spielen neben der bereits betrachteten Ausgangskollisionskonstellation auch die räumlichen Gegebenheiten sowie das Annäherungsverhalten beider Objekte eine entscheidende Rolle. Es zeigt sich aber auch, dass sich beide Strategien Bremsen und Ausweichen sehr gut ergänzen, und in Kombination einen Großteil der Kreuzungsunfälle adressieren können.
Welches Manöver in welchen Situationen vorzuziehen ist und wie relevant diese Situationen in Relation zum realen Unfallgeschehen sind, ist eine der Fragen, die im Rahmen des Projektes beantwortet werden.
Anforderungen an die Umfelderfassung
Schutzfunktionalitäten zur Adressierung von Unfällen in Kreuzungsszenarien besitzen hohe Anforderungen hinsichtlich der Umfelderfassung. Einerseits benötigen diese einen sehr großen Erfassungsbereich in Bezug auf den Öffnungswinkel, damit die kreuzenden Fahrzeuge überhaupt theoretisch rechtzeitig erfasst werden können. Andererseits besteht an Kreuzungen häufig die Problematik von zumindest zeitweiliger Verdeckung der relevanten Objekte, sei es durch Bebauung, Bäume, Hecken, weiterer Verkehrsteilnehmer oder sonstiger Objekte. Damit eine Schutzfunktion an Kreuzungen eine verlässliche Funktionalität gewährleisten kann, muss die zugrundeliegende Umfelderfassung beide genannten Herausforderungen in entsprechender Güte adressieren können.
Einen potenziellen Ansatz in Ergänzung zu optischer Umfeldsensorik, stellt hierbei die C2X-Communication dar. Diese unterliegt prinzipiell keinerlei Einschränkungen hinsichtlich des Öffnungswinkels und ermöglicht darüber hinaus auch trotz fehlender Sichtverbindung eine Datenübertragung zwischen den relevanten Objekten.
Falls eine Datenübertragung möglich ist, besitzen Kommunikationseinrichtungen im Vergleich zu üblicher optischer Umfeldsensorik (Video, Lidar, Radar) weitere Vorteile in Bezug auf zeitliche Verfügbarkeit und Genauigkeit der Informationen. So ist es einerseits nicht notwendig, die Informationen über mehrere Messzyklen zu verifizieren, bevor sie tatsächlich als ein entsprechendes Objekt klassifiziert werden können. Andererseits müssen Informationen wie Beschleunigung und ähnliches nicht erst aus den mittels Umfeldsensorik gemessenen Daten berechnet werden, sondern werden direkt im jeweiligen Objekt mit einer höheren Genauigkeit erfasst und von dort übertragen.
Im Rahmen des Projektes gilt es insbesondere zu klären, inwieweit eine Datenübertragung in Abhängigkeit der Verdeckung (Entfernung zum erstmaligen Sichtkontakt, Art der Sichtverdeckung, Vorhandensein von Reflektionsflächen, etc.) tatsächlich zuverlässig aufrechterhalten werden kann bzw. überhaupt möglich ist.